Cover
Titel
Utopia's Discontents. Russian Émigrés and the Quest for Freedom, 1830s-1930s


Autor(en)
Hillis, Faith
Erschienen
Anzahl Seiten
xiii, 343 S.
Preis
£ 22.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lutz Häfner, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Universität Bielefeld

„Die Zukunft der Menschheit hing von einem Gasthaus in Genf ab.“ Denn, so beginnt Faith Hillis ihr Buch, im Café Landolt waren im Sommer 1903 sowohl der russische Revolutionär Lenin als auch der spätere erste Staatspräsident Israels, Chaim Weizmann, zu Gast, um dort mit ihren Vertrauten revolutionäre bzw. zionistische Pläne zu schmieden.

Gegenstand der Untersuchung sollen die „russländischen Zentren“ bzw. „(An)Siedlungen“ in West- und Mitteleuropa sein, in denen Untertanen des Zarenreichs beiderlei Geschlechts, unterschiedlicher Nationalität und Konfession zumindest vorübergehend lebten, studierten, sich in Zirkeln, Lesestuben und Vereinen trafen, politisch organisierten, teils arbeiteten oder literarisch aktiv waren und vor allem die Zukunft des Imperiums zu gestalten versuchten. Obwohl zahlreiche Memoiren oder (Auto)Biographien russländischer Revolutionäre vorliegen, bezeichnet die Chicagoer Historikerin dieses Leben als weitgehend unbekannt (S. 1).

Das Dasein in den „Siedlungen“ oszillierte zwischen zwei Polen: Zuneigung, Solidarität und einem kollektiven Zusammengehörigkeitsgefühl einerseits, Sehnsüchten, Vereinsamung, vor allem intellektuellen Querelen und vehementen ideologischen Auseinandersetzungen anderseits, die den Zusammenhalt erschütterten (S. 3, 7). Die Monographie verheißt, die Einrichtungen und kollektiven Praktiken der in diesen Zentren lebenden Menschen ebenso zu untersuchen, wie ihre alltäglich gelebten experimentellen Lebensformen und emanzipatorischen Zukunftsprojektionen. Letztere waren mit dem Anspruch verbunden, nicht nur das alte Europa, sondern die ganze Welt zu befreien (S. 2, 6).

Zum Ende ihrer Einleitung bezeichnet Hillis ihre Untersuchung als eine „unkonventionelle“ Ideengeschichte (S. 8), die transnational Rechenschaft über die Ursprünge der russländischen radikalen Kultur in ihren populistischen, marxistischen und bolschewistischen Ausprägungen ablege (S. 9). Für eine Ideengeschichte aber wären weniger die Polizeimaßnahmen als vielmehr der Austausch mit den sozialistischen Parteien und Gewerkschaften in den Ländern Mittel- und Westeuropas wichtig, die im Buch aber völlig fehlen.

Die Studie besteht aus drei Teilen mit acht Kapiteln, die den Zeitraum von 1830 bis nominell in die 1930er-Jahre behandeln. Der Schwerpunkt liegt auf den Jahren 1880 bis 1920. Die Zeit danach wird kaum erörtert. Der erste Abschnitt thematisiert den mit dem polnischen Aufstand von 1831 beginnenden Exodus aus dem Zarenreich, der weitere Nahrung durch die revolutionären Ereignisse des Jahres 1848 und den polnischen Aufstand von 1863 erhielt. Der zweite Teil ist dem Verhältnis von Gastgebern und Gästen gewidmet. Die anfängliche Euphorie der westeuropäischen Gesellschaften für die nationale Befreiungs- und Emanzipationsbewegung wich einer Furcht vor dem sozialrevolutionären Destabilisierungspotential, weil Emigranten 1871 auf Seiten der Kommunarden kämpften (S. 13, 27) oder dem Umfeld des anarchistischen Terrorismus zugerechnet wurden (S. 59f.). Zuzugsbegrenzungen, (geheim)polizeiliche Überwachungen und Ausweisungen bestimmten Regierungs- und Polizeihandeln in Westeuropa (S. 117–151). Der letzte Abschnitt behandelt die Zeit der russländischen Revolutionen 1905 und 1917, ohne allerdings die durch Oktoberumsturz und Bürgerkrieg verursachte neuerliche Emigration zu erörtern.

Hillis schränkt sukzessive ihren Untersuchungsgegenstand immer weiter ein. Zunächst thematisiert sie noch die im Zarenreich Mitte der 1870er-Jahre entstandene Bewegung der „Volkstümler“. Dann verengt sich die Perspektive auf das politische Spektrum der Fraktionen der russländischen Sozialdemokratie. Schließlich endet die Betrachtung mit einer bolschewistischen Nabelschau, insbesondere Lenins, unter der Frage, inwieweit die in der Emigration gesammelten Erfahrungen sich in der Revolution 1917 entfalteten (S. 209). Warum sie den polyphonen Chor sozialistischer Konzepte zu einem diminuendo und schließlich Schweigen verurteilt, erschließt sich nicht.

„It was precisely his [Lenins, Anm. LH] willingness to adapt exile thought to the demands of its new setting that allowed him to rescue the utopian project of the colonies.“ Hillis preist nicht nur Lenins Flexibilität des Denkens, sondern attestiert diesem, er sei 1917 weniger doktrinär gewesen als in den Jahren zuvor (S. 213). Die bolschewistische Partei aber als „liebende Familie“ zu beschreiben (S. 217) und deren Gewalt als weitgehend improvisiert und reaktiv zu charakterisieren, ist inakzeptabel (S. 218). Obwohl Freiheit ein Bestandteil des Untertitels dieser Studie ist, unterlässt es Hillis, die unterschiedlichen Vorstellungen von Freiheit, die in der Emigration entwickelt wurden, zu diskutieren und die autoritären Tendenzen zahlreicher Bolschewiki nach dem Oktober 1917 adäquat zu thematisieren. Sie erweckt so den Anschein, die (revolutionäre) Emigration als Kollektivsingular mit einer volonté générale zu deuten.

Viele Aussagen sind indifferent oder sogar unzutreffend, wie folgende Beispiele illustrieren: „By October he [Lenin, L.H.] had overthrown the Provisional Government […].” (S. 209) Mit Bertolt Brecht gesprochen sei hier die Frage erlaubt: „Er allein?“ Von dem Sozialrevolutionär Wiktor Tschernow weiß sie zu berichten, dass er seit 1899 im Ausland gelebt habe und ihm wie anderen Emigranten das Heimatland fremd geworden sei. Seit 1922 habe er mit seiner Familie in Paris gelebt (S. 211, 237). Sie verschweigt, dass er von Oktober 1905 bis Juni 1908 in Russland und nach dem Bürgerkrieg etwa 15 Jahre lang in Prag lebte.1 Pawel Axelrod solle 1918 im Deutschen Reich gelebt haben (S. 217, 228). Nicht nur dass dies angesichts des Ersten Weltkriegs wenig plausibel erscheint, befand er sich bis August 1918 in Stockholm und lebte – wie seiner Korrespondenz zu entnehmen ist – spätestens ab Anfang Januar 1919 in Zürich. Seine Reise von Schweden in die Schweiz dürfte ihn über Deutschland geführt haben, doch wohnte er dort zunächst noch nicht dauerhaft.2 Laut Hillis wurde der sozialrevolutionäre Terrorist Boris Sawinkow 1925 in sowjetischer Haft exekutiert (S. 241). Der russische Historiker Konstantin Morosow, Spezialist der Geschichte der sozialrevolutionären Partei, geht von Selbstmord aus.3

Welches Fazit lässt sich ziehen? Die Verfasserin ist polyglott. Ihre Studie basiert auf einem umfangreichen Studium von Archivalien und Literatur. Letztere ist in Auswahl im Buch abgedruckt, in extenso im Internet einsehbar.4 Gleichwohl ist eine gewisse Selektivität nicht zu übersehen: Wichtige Titel zum Studium zarischer Untertanen im Deutschen Reich oder der sozialrevolutionären Partei fehlen.

Hillis Ansatz ist methodisch fragwürdig, weil sie den innerrussländischen Ereignissen 1917 keinen Eigenwert beimisst, sondern als Emanation (e)migrantischen Denkens und Handels darstellt. Von dem einen zu sprechen und dabei über die im Zarenreich verbliebenen Revolutionäre zu schweigen, ist ein gravierendes Versäumnis. In allen revolutionären Parteien gab es Kader, die vor 1917 nicht oder nur kurzzeitig im Ausland sozialisiert worden waren, auf die die Jahre der Emigration nicht formativ wirken konnten. Bei den Bolschewiki wären beispielsweise Stalin und Wiktor Nogin zu nennen, bei den Menschewiki Nikolai Tschcheidse, Petr Garwi oder Kusma Gwosdew, bei den Sozialrevolutionären Alexander Kerenski.

Gemeinsam bildeten sie die zwei sehr verschiedenen Seiten einer Medaille. Die ideologischen Grabenkämpfe der Emigration waren in der russländischen Heimat weniger ausgeprägt. Hier betonten die Revolutionäre eher fraktionsübergreifend gemeinsames Handeln, um den Sturz der Autokratie herbeizuführen. Wenn Hillis das Kapitel 8 mit „Revolution from Abroad“ überschreibt (S. 209), dann weist sie Theoretikern der Emigration einen unangemessenen Führungsanspruch zu. Denn es waren die „praktiki“ der revolutionären „Subelite“, die fest in der Arbeiterbewegung, den Gewerkschaften, den Krankenkassen, Hilfsgesellschaften, Konsumgenossenschaften, den Kriegsindustriellen-Komitees oder sogar der Staatsduma verankert waren, den revolutionären Untergrund kannten und federführend die Petrograder Februarereignisse 1917 gestalteten. Lenin hingegen mutmaßte in der Emigration noch Anfang Januar 1917, die kommende Revolution nicht mehr zu erleben.5

In dem großen von Leopold H. Haimson an der New Yorker Columbia Universität in der ersten Hälfte der 1960er-Jahren mit einer Reihe von betagter Menschewiki durchgeführten Interviewprojekt erinnerte sich Jurij (George) Denike an die habituelle Trennlinie zwischen revolutionären Emigranten und den in Russland verbliebenen Sozialisten: Der Kleidungsstil habe sich deutlich unterschieden. Außerdem schwangen Ressentiments wegen der unterschiedlichen lebensweltlichen Erfahrungen mit: Illegalität, Verbannung und Gefängnis bei diesen, die jene durch Emigration vermieden. Sein patriotischer Parteigenosse, Rechtsanwalt und Weltkriegsoffizier Georgi Kutschin bezeichnete Julij Martow 1917 abfällig als „Paris kafejnik“ [Café-Besucher].6

Die Studie steckt weder einen analytischen Bezugsrahmen ab noch erörtert sie den Forschungsstand. Auch wird keine These formuliert, die sich wie ein roter Faden durch die Darstellung zieht. Hinzu kommt, dass der Untersuchungszeitraum sehr lang ist und die Emigrantengruppierungen daher heterogen waren. Es ist zumindest fraglich, ob sich die nationalistischen polnischen Insurgenten des Jahres 1831 als Beispiel für die Ursprünge der „Russian [unklar bleibt, ob Hillis hier russisch oder russländisch meint, LH] radical culture“ anbieten (S. 9). Zugleich verschweigt die Autorin, welche Länder sie untersucht: Quantitativ stehen Frankreich, die Schweiz und mit leichten Abstrichen England im Zentrum; Belgien, das Deutsche Reich, die Doppelmonarchie und Italien treten ohne Begründung in den Hintergrund.

Insgesamt ruft das Buch viele Einwände und grundlegenden Widerspruch hervor, doch regt es zumindest zum Nachdenken an. Insofern ist die Lektüre vielleicht kreativ, aber nicht empfehlenswert.

Anmerkungen:
1 Vladimir Michajlovič Zenzinov, Perežitoe, N’ju Jork 1953, S. 64.
1 Anatolij Il’ič Avrus u.a., Viktor Černov: sud’ba russkogo socialista, Moskva 2015, S. 244, 246; Hannu Immonen, Mečty o novoj Rossii. Viktor Černov (1873–1952), Sankt Peterburg 2015, S. 299, 323.
2 International Institute for Social History (Amsterdam), Pavel Borisovič Aksel’rod Papers, Letters to Aksel’rod, Box 1, folder 18: Brief von A. Gassel’nik vom 4.1.1919 aus Stockholm an Aksel’rod in Zürich, Gladbachstr. 47.
3 Konstantin Nikolaevič Morozov, Fenomen Borisa Savinkova i zagadka ego gibeli, in: Idei i dealy. Naučnyj žurnal 29 (2016), 3, S. 157–175, hier S. 172; ders., Boris Savinkov. Opyt naučnoj biografii (Sankt-Peterburg: Nestor-Istorija, erscheint voraussichtlich im März 2022) Kap. VIII.3.
4https://www.zotero.org/groups/2320011/utopias_discontents--full_bibliography/items/LQNUCEF3/item; https://www.utopiasdiscontents.com/bibliography (07.01.2022). Der Verweis hierauf ist teils falsch, vgl. Hillis, S. XIII.
5 Lutz Häfner, Mehr als nur »zehn Tage, die die Welt erschütterten«: Literaturbericht anlässlich des Zentenariums der Russländischen Revolution von 1917, in: Archiv für Sozialgeschichte 59 (2019), S. 309–346, hier S. 319f.; Tsuyoshi Hasegawa, The February Revolution, Petrograd, 1917. The End of the Tsarist Regime and the Birth of Dual Power, Revised, Enlarged and Reinterpreted Edition, Washington 2018, S. 104.
6 George Denike, in: Leopold H. Haimson (Hrsg.), The Making of Three Russian Revolutionaries. Voices from the Menshevik Past, Cambridge, Paris 1987, S. 293–450, hier S. 423.

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